Das Welt-Ei

Aus „Wiederkehr der Göttin“, Barbara Mor, Labyrinth-Verlag
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6.4

 

Die Große Mutter alles Lebenden unserer frühesten Vorfahren zeugte Leben parthenogenetisch, ohne Mann, aus sich selbst heraus und für den ganzen Kosmos. Sie war das Welt-Ei, dessen zwei Hälften das Yin und Yang, Dauer und Veränderung, Ausdehnung und Zusammenziehung des Universums enthielten. Der Prozess wird symbolisiert durch die Spirale, die sich immer wieder in sich selbst verschränkt; durch den Atem, der erwacht und wieder in Schlaf zurückfällt; durch Kali, die das Universum abwechselnd ins Da-Sein tanzt und in den Tod. Die aufsteigende Spirale stellt die Transformation von Materie in geistige Energie dar, die absteigende Spirale dementsprechend die Materialisierung des Geistes, die der vielfältigen Entwicklung der gesamten stofflichen Welt zugrunde liegt. Die Verwandlung von Energie in Materie durch spiralförmige Bewegung ist die Ur-Bewegung des Universums. Die Spirale ist der Schlüssel zur Unsterblichkeit und wird mit dem Mond identifiziert. Das spiralförmige Ein- und Ausatmen des Kosmos lässt das Universum entstehen und vergehen. Energie = Materie, Welt = Geist. Strahlende Energie kann in feste Teilchen verwandelt werden und umgekehrt. (So alt diese kosmologische Weisheit ist, sie bleibt die genaueste Aussage über kosmische Vorgänge, die bislang gemacht wurde. Physiker des 20. Jahrhunderts konnten in ihrer ganz anderen Sprache diese alte Vorstellung auch nur bestätigen.)

Die zwei Hälften des Welt-Eies
waren weiß und schwarz

wie der Tag und die Nacht, gegensätzlich wie Heiß und Kalt, wie Leben und Tod. Das Welt-Ei schloss in sich alle Gegensätze ein, stand aber auch für die Einheit der Gegensätze, so wie sich aus der Bewegung der Spirale die Ganzheit eines Kontinuums ergibt. lm Osten wurde diese Idee ungefähr im vierten Jahrhundert v.u.Z. in der Vorstellung von Yin/Yang ausgedrückt. Yin bzw. das negative Prinzip hat sich ursprünglich wahrscheinlich auf die dunkle bzw. Schattenseite eines Berges bezogen; es wurde mit Merk malen der Erde, des Mondes und des Wassers in Verbindung gesehen. Yang bzw. das positive Prinzip, das ursprünglich mit der hellen Seite eines Berges in Verbindung gesehen wurde, wurde mit Himmel, Sonne und Feuer identifiziert. Generationen östlicher Philosophen haben alles in diese Kategorien eingeteilt, zum Beispiel auch die Geschlechter: Yin wurde von ihnen als weiblich und Yang als männlich eingeordnet.

Dieser östliche Dualismus war ursprünglich aber gänzlich verschieden vom moralischen Dualismus des christlichen Abendlandes. Yin/Yang sind nicht unvereinbare Gegensätze, die sich gegenseitig die Herrschaft über das Universum streitig machen. Yin und Yang sorgen vielmehr für kosmische Harmonie, indem sie sich gegenseitig ergänzen. Sie sind auch nicht starr festgelegt, sondern transformieren sich gegenseitig, das eine verwandelt sich in das andere in einem ständigen Entwicklungsprozess. Ohne die unendlichen Bewegungen und den ständigen Austausch dieser Kräfte gäbe es kein Leben. Der yin-betonte Winter wird zum yang-betonten Sommer. Beide Kräfte können ebenso etwas schaffen wie etwas zerstören. Die lebenspendende Sonne, die auch töten kann, zieht sich zurück und überlässt die Erde der Dunkelheit und Kälte, und doch keimt in ihr unsichtbar bereits neuer Lebenssamen.

Solche Bilder und begrifflichen Kategorien sind heidnisch: sie sind aus langer inniger Erfahrung und Kenntnis natürlicher Vorgänge hervorgegangen. Die Lebensprozesse sind nicht linear, sondern zyklisch: Leben führt zum Tod und dieser erneut zum Leben. Der Mond macht diese Entwicklung durch, stirbt und wird wiedergeboren. Die Psyche richtet sich nicht auf Widersprüche aus, sondern auf den sensiblen Austausch, den Tanz der Polaritäten. Spätere Philosophen wie Konfuzius benutzen die Yin/Yang-Prinzipien, um die hierarchische Politik des chinesischen Hofes und des patriarchalen Staates zu stützen, und stellten Yang als das Herrschende und Yin als das Untergeordnete hin. Frühe Taoisten andererseits bewerteten die negative Kraft, das Yin der Schattenseite, als ebenso kreativ wie das Yang. Der Taoismus, eine mystische und sexuelle Religionsphilosophie, hatte seinen Ursprung im frühen chinesischen Matriarchat, in dem das Männliche das Erd-Tier war und das Weibliche das „Tier der Veränderung« bzw. das Transformationsprinzip. Westliche Alchimisten und später auch Physiker mussten bestätigen, dass der negative Pol die kreative Aktivität alles Stofflichen hervorruft. Einige Physiker vertreten die Theorie, dass das Universum auf den Schattenseiten unregelmäßig verstreuter Teilchen anfing, lebendige Form und Bewegung anzunehmen.

Die Verfälschung der mystischen Yin/Yang-Verbindung zu einem unterdrückerischen‘ dualistischen System ging im Osten wie im Westen einher mit der Ablösung ländlicher Stammeskultur durch die hierarchische höfische Kultur, d.h. sie geschah gleichzeitig mit der Verdrängung matrilinearer durch patrilineare Strukturen. lm Kampf um Eigentum und Macht wurde die Yin/Yang-Gleichung so verändert, dass sie als Werkzeug und Waffe zur Installierung von Ungleichheit und Unterdrückung diente. Yin, das Negative, Weibliche, wurde von da an als sexuell und intellektuell passiv und minderwertig interpretiert, während Yang, das Positive, Männliche, als sexuell, intellektuell und spirituell aktiv und überlegen dargestellt wurde. lm Westen führten diese institutionalisierten Dualismen zum Ideal der hetero sexuellen patriarchalen Ehe, in der eine sexuell unter drückte und ökonomisch abhängige „Ehefrau“ einem sexuell und ökonomisch dominierenden „Ehemann“ dient. Diese Ordnungsvorstellungen sind hochpolitisch und dienen dazu, das Patriarchat und die Unterordnung von Frau en aufrechtzuerhalten und zu rechtfertigen. Yin-Weisheit wird von Männern als „irrationale Schwäche“ verächtlich gemacht, während Yang-Kraft dazu benutzt wird, jede ausbeuterische Handlung, wie ungerecht und brutal sie auch sein mag, zu rechtfertigen.

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