Struktur in matrilinearer Gesellschaft

Auszug aus dem Buch Das Land der Töchter, Yang Erche Namu, Christine Mathieu, Eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den Frauen gehört, Ullstein-Verlag, ISBN-3-548-25959-6

Die matrilineare Moso-Familie fasziniert zwangsläufig jeden, der sie von der anderen Seiten der Berge her betrachtet – denn die Moso sind angeblich das einzige Volk auf der Welt, das die Ehe als Gefahr für die Familie ansieht. Tatsächlich war die Herat in der Gesellschaft der Moso nie völlig unbekannt, und die Moso-Familien organisieren sich seit der chinesischen Revolution sogar auf unterschiedlicheste Weise, aber offizielle Hochzeiten und Kleinfamilien gibt es bis zum heutigen Tag nur wenige (2005). Außerhalb von Labei betrachtet man als die ideale Familie eine große Grppe von Menschen, die alle durch die Frauen des Hauses verwandt sind – Großmütter, Großonkel mütterlicherseits, Mütter, Schwestern, Onkel mütterlicherseits, Töchter, Söhne, Enkelkinder, Nichten und Neffen. Im Mittelpunkt dieser Familie kann kein Ehemann, keine Ehefrau und kein Vater stehen, sondern stattdessen Brüder, Schwestern, Mütter und Konkel mütterlicherseits. Idealerweise sollte eine Moso-Familie sich niemals spalten, der Reichtum ist Gemeinschaftsbesitz und wird zum Wohle aller Familienmitglieder gleichmäßig aufgeteilt, und eine Regelung der Erbschaft ist gar nicht notwendig, weil der Beseitz einfach von einer Genereation auf die andeare übergeht, wenn die Kinder des Hauses der Vamilie die Nachfolge ihrer Mütter und Onkel antreten.

Während die Moso dieses Ideal einer unteilbaren Familie vertreten, halte sie andererseits sexuelle Beziehungen strkt aus der Familie heraus – eine Verhaltensregel, die ihren konkretesten Ausdruck darin findet, dass in einem Moso-Haus nur Frauen eigene Schlafzimmer besitzen, die man anschaulich als babahuago oder „Blumenzimmer“ bezeichnet. Alte Menschen und Kinder unter dreizehn schlafen im Hauptraum, an der Feuerstelle oder in Alkoven. Von erwachsenen Männern wird erwartet, dass sie bei ihren Geliebten schlafen, und wenn sie keine Freundin haben, nächtigen sie in einem der Nebengebäude oder Gästezimmern über den Ställen. Außerdem untersagt der Brauch der Moso nicht nur erwachsenen Männern, unter demselben Dach zu schlafen wie ihre weiblichen Verwandten, er verbietet sogar jede Art von Gesprächen über Sexualität, sexuelle Anspielungen und Scherze und sogar das Singen oder Summen von Liebesliedern im Haus der Familie. Männern und Frauen steht es frei, sich Partner zu wählen und nach Belieben kürzere oder längere sexuelle Beziehungen einzugehen, doch was eine Frau und ihr „Freund“ (azhu) in der Zurückgezogenheit des Schlafzimmers tun, geht nur sie alleine etwas an. Wenn ein Paar sich entschließt, seine Beziehung öffentlich zu machen, dürfen die beiden bei ihren jeweiligen Verwandten zusammentreffen. Sie sollten jedoch ihr romantisches Verhältnis keinesfalls vor Familienmitgliedern des anderen Geschlechts zur Sprache bringen, nicht einmal vor ihren eigenen Kindern. Diese Anstandsregeln sind so streng, dass idealerweise – und das war bis zum Eingreifen der Kommunisten auch so – Väter offiziell nicht vorhanden waren. In der Vergangenheit erführen die Menschen nur indirekt, wer ihr Vater war, oder sie erführen es nie. Denn die bedeutsamen männlichen Familienmitglieder sind die Onkel, nicht die Väter. Tatsächlich sind Moso-Männer nicht den Kindern verpflichtet, die sie zeugen, sondern den Kindern ihrer Schwestern.

Weil die Moso ihre sexuellen Beziehungen in der Form des Besuchs der Männer im Haus ihrer Geliebten organisieren, nennt man den Braucht gelegentlich „Besuchsehe (visiting marriage) oder auch „mobile Ehe“ (walking marriage). Letzterer Begriff, der von chinesischen Anthropologen bevorzugt wird, leitet sich von der Terminologie der Moso selbst ab, die sexuelle Beziehungen als sese, also „laufen“, bezeichnen. Diese sese können aber beim besten Willen nicht als Ehen betrachtet werden. Es existieren zwei Formen der sese – zum einen vollständig privat und für gewöhnlich kurzlebig oder stabiler und öffentlich anerkannt -, aber alle sese beruhen auf dem System des Besuches, und keine solche Beziehung umfasst den Austausch von Schwüren und Besitz, die Sorge für gemeinsame Kinder oder den Anspruch auf Treue. Natürlich sind selbst bei den Moso die Menschen nichtgänzlich gefeit gegen Eifersucht oder Liebeskummer, aber der Moralkodex der Moso missbilligt zutiefst die öffentliche Zurschaustellung von Eifersucht oder Herzeleid, ja überhaupt jede Demonstration negativer Gefühle. Bis zu einem gewissen Punkt können verschmähte Liebende auf das Mitgefühl von Nachbarn oder Freunden zählen, doch wenn sie ihre Gefühle nicht zu beherrschen vermögen, verlieren sie ihr Gesicht und müssen damit rechnen, dass die Sympathie nunmehr dem treulosen Partner gilt. Idealerweise soll nichts außer Begehren und gegenseitige Zuneigung über die Freiheit und Häufigkeit sexueller Beziehungen bestimmen. Als chinesische Beamte in den fünfziger Jahren erstmals auf die Moso trafen, waren sie zutiefst schockiert – allein schon durch die Zahl von Partnern, die sowohl Frauen als auch Männer angaben, und auch, weil sie nicht den geringsten Anschein von Verlegenheit deswegen erkennen ließen.

Aus der Perspektive der Moso gesehen jedoch stärken und stützen solche freien Besuchsbeziehungen die Stabilität der Familie. Sexuelle Beziehungen werden als zeitlich begrenzt betrachtet; sie finden außerhalb der Arbeitszeit statt und bringen keine ökonomische Verpflichtung mit sich; daher stören sie das wirtschaftliche Leben der Familie nicht und bilden keine Konkurrenz zu den Bindungen zwischen Brüdern und Schwestern und Müttern und Kindern, die den wirklichen Kern der Familie darstellen.

Die ökonomische Organisation der Moso spiegelt diese sexuellen Verhaltensmuster. Ganz einfach ausgedrückt konzentriert sich die Arbeit der Frauen auf das Haus, während die Männer außerhalb tätig sind. So obliegt den Frauen der Anbau, die Zubereitung und die Verteilung der Nahrung während ihre männlichen Verwandten die Häuser bauen, das Vieh hüten und Handel treiben, und sie bringen das Bargeld, das sie in der Außenwelt verdienen, nach Hause. Auf ganz ähnliche Weise sind Frauen und Männer für unterschiedliche Bereiche des Glaubens verantwortlich: die Frauen kümmern sich um die täglichen Opfer an die Hausgötter und die Vorfahren, während die Männer sich in der organisierten Religion betätigen, dem tibetischen Buddhismus oder, wo diese Tradition noch existiert, dem Daba-Kult. Allerdings muss auch darauf hingewiesen werden, dass diese Arbeitsteilung zwar dominiert, die Grenzen zwischen den Geschlechtern aber leicht zu überschreiten sind, wenn die Umstände dies erfordern. In dem Maße, wie Bildung und Bargeldökonomie in die Gesellschaft der Moso vordringen, wandelt sich außerdem die Rolle der Frau. Heutzutage sind Frauen wie Männer in der lokalen Touristikindustrie beschäftigt, und Töchter ziehen ebenso wie Söhne in die Städte, um das dringend benötigte Bargeld zu verdienen, wenngleich dies niemals die erste Wahl ist.

Es ist schwer einzuschätzen, wer in der Gesellschaft der Moso die beherrschende Position einnimmt. Männer oder Frauen. Die gesellschaftliche Etikette der Moso betont eindeutig den Vorrang von Alter vor Geschlecht und verlang demnach generell Respekt vor älteren Menschen beiderlei Geschlechts. Aber selbst eine ältere Frau, die Dabu – Haushaltsvorstand – ist, übt keine unangemessene Autorität über ihre Verwandten aus. Ideal gesehen funktionieren Moso-Familien als demokratische Einheiten, in denen alle Verwandten Anspruch darauf haben, in Entscheidungen einbezogen zu werden.

 

das Land der Töchter