Jenseits des Horizontes 3


Zurück in ihrer Dunkelheit und warmen Wohligkeit richtete Inge sich auf. Sie schwebte frei im Raum. Wo immer etwas sein konnte, das ihr Interesse weckte, wandte sie sich diesem zu. Sie löste mathematische Probleme, die ihr im Studium unmöglich erschienen waren. Sie fand heraus, welche Primzahlen existierten. Sie fühlte all die Fragen, die Menschen krank werden ließen, und fand ihre Lösung. Die irdene Schöpfung lag vor ihr wie ein offenes Buch. Sie erkannte, dass diese Dunkelheit die Konzentration allen Seienden war, aus der sie alles formen konnte, was ihr in den Sinn kam. Sie richtete den Blick auf die Sterne und begriff, dass hier auf einer niedrigen Schwingungsebene etwas versuchte, Form zu erlangen, um sich zu verwirken und zu lernen. Sie erkannte, dass all ihre bisherigen Maßstäbe nur ein Gerüst für das Leben auf der Erde waren, um wie an einer Krücke gehen zu können. All das, was sie sah, entsprang ihrer und vieler Seelen Fantasie. Sie erkannte unendlich zahlreiche Welten in ebenso zahllosen Variationen.

Mit einem Mal kam sie sich klein vor. Irgendwie einsam. Nun begann um sie herum das Dunkle zu glühen. Viele Fäden zogen sich durch die dunkle Sphäre hindurch. Vorsichtig berührte sie einen dieser Fäden. Im gleichen Moment spürte sie sich verbunden mit Wesen aus allen Bereichen. Sie fühlte sich in den Arm genommen, gestreichelt, umsorgt; sie spürte sich im Paradies.

‚Hier bleiben! Hier ist es gut, ich bin ich zu Hause!‘ Inge liefen die Tränen über das Gesicht, denn die unendliche Zufriedenheit und das goldene Glück, zurück in der Gemeinschaft  zu sein, füllten ihr Herz.

Eine Hand legte sich auf ihre Schultern. „Sei willkommen. Hier kannst Du jetzt Kraft tanken, denn Du wolltest in diesem Leben noch mehr erreichen. Stärke Dich, sammle, was immer Du brauchst.“ Eine wissende und warme Stimme sprach zu Inge. Sie kannte diese Stimme, denn diese hatte sie schon immer begleitet. Das Netz des Lebens umhüllte sie und spendete Kraft wie eine Quelle.

„Hab ich denn etwas falsch gemacht?“ Inge horchte in sich hinein.

„Nein, niemand macht etwas falsch. Alles ist richtig, denn nur wenn Du alles kannst, kannst Du auch den Hunger nach Wissen und Fühlen stillen. Alles ist gut, wie es ist!“ beruhigte sie die Stimme.

„Warum soll ich dann zurück?“ Inge schluchzte.

„Oh, Du brauchst nicht zurück – aber Du kannst. Es war und es ist sicherlich noch Dein Wunsch, Dein Lebensrätsel zu erkunden.“

Inge mochte nicht. Sie begann zu diskutieren. Es war einfach zu schön hier in der Mitte allen Seins. Sie spürte das Lächeln in der Stimme, die ihr immer wieder vor Augen hielt, dass es ihr eigener Wunsch nach Verwirklichung war, der sie zu ihrem Erdenleben veranlasst hatte.

„Aber das ist doch alles so schwer, so mühsam. All diese Gewichte. Dieser Körper, der sich nur mühsam bewegen lässt. Die Umstände, die sich nur unendlich langsam verändern lassen…!“

„Ginge es schneller, könntest Du die Details nicht erkennen. Würdest nicht verstehen oder viel zu früh begreifen.“

Inge hatte schon vorher verstanden, aber sie versuchte sich mit Händen und Füßen an diesem Paradies festzuhalten. Doch eines wurde ihr immer deutlicher: ihr eigener Wunsch sprach mit ihr. Ihr Begleiter hatte genau ihr Interesse im Auge. Jetzt hier zu bleiben widersprach ihrer eigenen Absicht.

So entschloss sie sich zu einer Rundreise durch diese Unendlichkeit, die eingehüllt war in alle anderen Unendlichkeiten. Sie betrachtete alles mit den unterschiedlichsten Augen, umarmte all ihre Schwestern und Brüder, verabschiedete sich von ihnen, verschmolz mit ihrem begleitenden Helfer …

… und fiel zurück in ihr irdenes Dasein.

Inge blinzelte mit den Augen. Sie lag in einem Bett, neben sich eine kleine Leuchte, die einer Frau das Lesen ermöglichte. Inge bewegte sich vorsichtig.

„Mein Gott, da sind Sie ja wieder!“ Die Nachtschwester strich ihr über die Hand.

Inge lächelte in sich hinein – wie Recht diese Frau mit ihrer Anrufung hatte, konnte sie gar nicht ermessen.

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Inge hat, nachdem sie wieder auf den Beinen war, erst einmal erfahren, dass sie in der Tat nach der Operation reanimiert werden musste. Was sie auch klären konnte: alles, was sie als „Geist“ auf den Stationen gesehen hatte, war tatsächlich an jedem dieser Orte anzutreffen. Um sich selbst nicht zu betrügen, hatte sie zuvor, noch im Bett liegend, alle Räume beschrieben und dies von einer Zeugin aufzeichnen lassen. Dieses Erlebnis hat ihre wissenschaftliche Einstellung nachhaltig beeindruckt, und sie veranlasst, von nun an alles zu hinterfragen.

Gisa, Ende 2010