Kennenlernen

Als ich aufwachte, war es hell. Ich schaute mich um. Irgendwie war alles ganz anders. Es gab keine Büsche, die Wellblechkiste war ebensowenig vorhanden wie meine Mutter, an die ich mich beim Schlafen bisher immer angekuschelt hatte. Langsam fiel mir alles wieder ein, was mir gestern passiert war: Ich war durch den Park gestreunt. Als ich zurück zu unserer Kiste gekommen war, war sie leer. Alle waren verschwunden. Sowohl meine Geschwister und Tanten als auch meine Mutter. Überhaupt waren alle Katzen und Kater aus dem Park verschwunden. Ich erinnerte mich, daß ich laut rufend durch die Büsche gelaufen war. Aber ohne jeden Erfolg. Dann hatte ich schnuppernd alles abgesucht. Viele fremde Gerüche hatte ich gefunden. Bis ich an die Stelle angekommen war, an der eine Straße an den Park heranführte. Hier hatte ich plötzlich Angst von vielen Katzen in der Nase gehabt, auch von Balthus, dem Chef-Kater im Park. Ein paar Schritte die Straße entlang war nichts mehr zu riechen gewesen. Hilflos und verloren war ich die Straße weitergelaufen. Dann war es dunkel geworden. Tiefschwarze Nacht und viel kälter. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Mutter und den anderen gehabt. Leise hatte ich geweint. Dann hatte mich jemand mitgenommen und nun war ich in einem neuen Nest.

Ich befand mich in einem großen Raum, vollgestellt mit hölzernen Dingen, deren Sinn ich noch nicht so recht ausmachen konnte. Von einer der Holzkisten hörte ich leise Atemzüge. Ich drehte den Kopf, um besser zu sehen. Irgendwelche weißen Berge versperrten mir die Sicht. Also erhob ich mich aus meinem Nest und ging leise zu der Kiste hinüber, aus der die Atemzüge kamen. Ich ging ein wenig in die Knie, dann sprang ich hoch. Der weiße Berg, auf dem ich gelandet war, sank mit mir in sich zusammen, so daß ich nichts mehr erkennen konnte. Ich machte vorsichtig einen Schritt. Auch hier sank das weiße Gebirge ein. Mit jedem Schritt kam ich dem Atem näher, konnte ihn aber nicht sehen, denn um mich herum waren nur diese weißen Berge.

Ich war völlig durcheinander. So etwas war mir noch nie passiert. Weiche, warme, weiße Berge, die nachgaben, wenn ich meine Pfote darauf setzte. Was war das bloß? Ich legte mich hin, darüber mußte ich erst einmal nachdenken. Plötzlich bewegte sich der Berg, auf dem ich lag, und schaukelte ganz ungeheuer. Ich rutschte ein kleines Stück. Dann war wieder alles ruhig. In meiner Angst hatte ich mich festgekrallt. Nun steckten meine Nägel in diesen weißen Bergen. Es hatte sich kaum Widerstand geboten. Vorsichtig zog ich die erste Pfote heraus. Das ging auch ganz leicht. Ich schüttelte sie ein wenig, damit sich die Haare wieder richtig stellen konnten, und leckte sie. Dann die zweite Pfote. Auch die Hinterpfoten lösten sich problemfrei. Tolles Gebirge!

Mit eingezogenen Krallen ging ich weiter. Ich war ungemein neugierig! Dann stand ich plötzlich vor einem Gesicht, das ich auf den ersten Blick kaum wiedererkannte. Ich schnupperte. Doch das war der Geruch des Wesens, das mich mitgenommen hatte. Die harten, durchsichtigen Wände waren verschwunden. Die Augen waren zu und die langen Haare lagen auf dem Gesicht. Irgendwie war allerdings der Geruch anders als vor dem Schlafen. Irgendwie schärfer. Bei jedem Atemzug konnte ich es riechen.

Das mochte ich nicht so recht. Leicht, um keine Unruhe zu erzeugen, schlich ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Dann sprang ich von der Kiste mit den weißen Bergen wieder hinunter auf den Boden. Die Erkundungstour war ja noch lange nicht beendet. Es gab doch noch so viel zu sehen.

Nach einigen Schritten ragten hohe lange Holzsäulen vor mir auf. Ich schaute hinauf. Immer vier Säulen waren ganz oben miteinander verbunden. Wenn ich mich daruntersetzte, dann hatte ich ein Dach über dem Kopf. An einer der Seiten ragten die Säulen noch weit über das Dach hinaus. An ihrem Ende war auch eine Platte angebracht, wie das Dach, unter dem ich gesessen hatte. Komisch!

Von diesen Dingern gab es zwei Stück. Zwischen ihnen standen weitere vier aber viel dickere Säulen mit einer viel größeren Dachplatte. Hier waren die Säulen alle gleich lang. Ich versuchte auf die kleineren Dinger heraufzukommen. Aber ich war zu klein. Keiner meiner Sprünge brachte mich an mein Ziel. Ich purzelte immer wieder auf den Boden und kugelte zur Seite.

Nun gut, es gab schließlich noch viel mehr zu sehen. Da stand eine riesengroße Holzkiste und mehrere kleinere; alle mit kurzen Säulen darunter. Es reichte gerade, daß ich drunterkriechen konnte. Herrliche Höhlen waren das. Die Höhle unter der größten Kiste war besonders gemütlich. Hier lag eine weiche Unterlage, auf der ich es mir gemütlich machen konnte.

Ich warf einen Blick zum weißen Gebirge. Dort tat sich nichts. Also erkundete ich meine neue Umgebung weiter. Da gab es eine Metallkiste, an der es höchst interessant roch. Daneben war – auch aus Metall – eine runde Sache. Obendrauf war ein Deckel. Der Geruch, der hier entströmte, war phantastisch. Ich trat vorsichtig heran und richtete mich auf meinen Hinterläufen auf. Ich schaffte es fast, es fehlten nur wenige Zehenbreiten bis zum Deckel. Neben mir war eine kleine Stufe. Also trat ich mit meiner Hinterpfote darauf, um das fehlende Stückchen auszugleichen.

Aber kaum war ich daraufgetreten, schepperte es mit einem Höllenlärm, der Deckel flog hoch und ich floh angsterfüllt unter die große Holzkiste in meine Höhle, denn hinter mir krachte es furchterregend.

„Herrgott, was ist denn los!“ brüllte es im selben Moment aus dem weißen Gebirge. Das Wesen richtete sich auf und griff mit seiner Vorderpfote um sich. Ich schielte vorsichtig um die Ecke. Plötzlich hielt es einen Rahmen in der Pfote, in dem die harten, durchsichtigen Wände waren. Dann wurde der Rahmen auseinandergebogen und auf die Nase geschoben. Nun saßen die Wände wieder vor den Augen.

„Oh, mein Schädel dröhnt!“ stöhnte die Stimme und das Wesen hielt seinen Kopf fest. Dann schob es seine Hinterläufe unter dem weißen Gebirge hervor und stand auf.

„Das war ein feuchter Abend gestern. Dröhnt mir der Schädel!“ brummte das Wesen. „Wie kann sich der Mensch nur so etwas antun!“ Das Wesen war ein Mensch! Nun wurde mir einiges klar. Mutter hatte mir davon erzählt. Sie laufen auf ihren Hinterbeinen, während sie mit den Vorderpfoten nach uns greifen können. Mutter hatte auch erzählt, daß sie dann mit Steinen nach uns werfen, wenn wir unsere Nachtmusik singen; und daß sie immer sehr gefährlich wären. Und in so eine Falle war ich hineingetappt! Ich war der Gefangene eines Menschen! Panisch kroch ich so weit es ging in meine Höhle, bis ich hinten an der Wand anstieß. Mutter hatte mich gewarnt! Und ich war nicht geflohen. Nun war ich verloren. Plötzlich fiel mir ein, daß es genau der Geruch gewesen war, den ich auch auf der Fährte der Katzen gerochen hatten, als sie verschwunden waren: Menschen!!!

Ich war verzweifelt. Was sollte ich bloß tun? – Aber andererseits, noch lebte ich, und vielleicht gerade wegen dieses Menschen da vor mir. Ohne ihn hätte ich nichts zu trinken gehabt. Ohne ihn wäre ich erfroren. Nun wußte ich überhaupt nicht mehr weiter. Wem war ich da ausgeliefert? Einer Lebensgefahr oder einem Lebensretter? Ich saß in meiner Höhle und zitterte hilflos vor mich hin.

Währenddessen entstanden viele verschiedene Geräusche und Gerüche, die mir gänzlich fremd waren. Wie jeder junge Kater war ich trotz aller Angst unsterblich neugierig. So dauert es nur kurz, bis ich ganz vorsichtig an den Ausgang meiner Höhle kroch und hervorlugte.

Der Mensch ging auf seinen Hinterbeinen durch das Zimmer und riß die Tür der Metallkiste auf. Innen ging ein Licht an und zeigte viele bunte Sachen, die ein ganz klein wenig nach Essen rochen. Er griff hinein und zog mit zwei Krallen ein gelbes Stück heraus. Dann ging die Tür wieder zu. Der Mensch trat an das Ding mit den vier dicken Säulen und raschelte darauf herum. Dann goß er eine dampfende Flüssigkeit, die nach Wasser roch, aus einem Gefäß. Er nahm einen Metallstab und bewegte ihn im Kreis. Es klapperte und dann hob er ein Gefäß, aus dem es dampfte, hoch an sein Maul.

„Oh, tut das gut. So ein Tee macht einen erst wieder richtig munter!“ Während er das sagte, schaute er in meine Richtung und entdeckte mich.

„Ach ja, mein kleiner Findling. Dich hatte ich ja ganz vergessen. Na, wie war die erste Nacht in Deinem neuen Heim?“ Das Gefäß wurde auf die Säulenplatte gestellt und der Mensch kam um das Holzding herum auf meine Höhle zu. Ich zog mich schnellstens zurück bis an die Wand. Doch das nützte mir nichts. Die Vorderpfote des Menschen griff unter die große Holzkiste und kam mir immer näher. Sofort fuhr ich meine Krallen aus und schlug zu.

„Au! – Das tut weh!“ Der Mensch schien kein dickes Fell zu haben! „Du kleine Kratzbürste! Ich tu Dir doch nichts. Na komm, Du bekommst auch einen Schluck Milch!“ Das sollte ich wohl glauben. Nein, ich war schlau, ich blieb genau da, wo ich war.

Die Pfote verschwand, ich konnte genau die vier roten Streifen sehen, die meine Krallen hinterlassen hatten. Kurz darauf klapperte es und das rote Gefäß, das ich schon vom Vorabend kannte, stand plötzlich vor meiner Höhle.

„Na, komm! Da steht Deine Milch! Nun trink schön, Du mußt doch Hunger haben. Kleine Kater wollen doch wachsen und die Welt erobern! Na, komm schon!“

Nein, so dumm war ich nicht. Standhaft blieb ich in meiner Ecke hocken. Keine zwölf Pferde würden mich herausbringen, das hatte ich beschlossen.

Nein, zwölf Pferde nicht, wohl aber mein Hunger. Die Milch duftete und ich wurde weich. Nach wenigen Minuten war meine Angst verflogen und hatte einem Bärenhunger Platz gemacht. Vorsichtig, ein wachsames Auge auf den Menschen werfend, krabbelte ich aus meiner Höhle hervor und ging auf das Gefäß zu. Dann hielt mich nichts mehr. Ich senkte meinen Mund in die Milch und schlürfte, so schnell es meine gute Erziehung erlaubte, das Festmahl in mich hinein.

Nach wenigen Minuten hatte ich das Essen vertilgt. Ich setzte mich daneben und putzte, wie es sich für einen reinlichen Kater gehört, mit den Pfoten mein Gesicht. Ich schleckte meine Pfote naß und wischte mir über den Mund. Das wiederholte ich sooft, wie es die Fettreste nötig machten. Nun erhob ich stolz meinen Kopf und blickte dem Menschen mutig in die Augen.

Dieser hatte sich inzwischen auf eine der kleineren Säulenplatten gesetzt. Als er festgestellt hatte, daß ich mit dem Essen fertig war, sagte er mir, ich solle doch zu ihm kommen; wir müßten uns näher kennenlernen.

Ich überlegte kurz, ob nun „Lebensgefahr“ oder „Lebensrettung“ meine neue Umgebung bestimmen würde, und entschied mich mehr für die Rettung – die Gefahr nicht ganz aus dem Auge verlierend. So erhob ich mich denn und schritt mit der mir gebührenden stolzen Haltung zu ihm hin.

Er reichte seine eine Vorderpfote herunter, drehte sie um und öffnete sie leicht. Ich sah, daß er seine Krallen nicht ausgefahren hatte, und faßte Vertrauen. Ganz vorsichtig schob er seine Zehen unter mein Kinn und begann mich zu kraulen. Oh, das tat gut. Ich genoß die leichte, streichelnde Bewegung. Meine Angst zog sich mehr und mehr zurück. Dann fühlte ich die kraulende Pfote an meiner Seite und auf meinem Rücken. Ich streckte mich genießerisch in die Länge und fühlte mich von Minute zu Minute wohler.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als mich die Vorderpfote hochhob und auf den Hinterläufen des Menschen absetzte. Die zweite Pfote übernahm das Kraulen, als der Mensch sagte:

„Ich heiße Gaby! Und wie wollen wir Dich taufen? Du bist ein schöner Kater! Vielleicht weil Du eben ein Kater bist und keine Katze, was hältst Du von „Kater“? Dich „Max“ oder „Peter“ zu nennen, ist nicht das richtige! Du bist „Kater“, einverstanden?“ – Dann entstand eine Pause. „Ja, Kater gefällt mir wirklich!“

„Also, Kater: Ich erkläre Dir jetzt einmal, wie das hier mit uns beiden laufen kann. Ich arbeite als Krankenschwester nachts in der Klinik…“ Das klärte einiges, der Mensch war eine Menschin, eine Menschfrau! „… nachts, wenn ich nicht gerade frei habe, gehört Dir dies Zimmer. Aber bitte laß alles heil. Fressen stelle ich Dir hin, ebenso Wasser. Die Sache mit der Milch ist nur eine Notlösung. Kuhmilch ist nichts für Kater. Da gibt es gesünderes. Morgen ist Montag, da kaufe ich, was Du brauchst.“

„Also, nachts ist das hier Dein alleiniges Reich, bis Du größer geworden bist. Ich brauche eine Wohnung. Die wird ab sofort im Grünen gesucht, schließlich sind wir nun zu zweit und müssen auch Deinen Bedürfnissen gerecht werden. Aber wenn ich ehrlich bin, im Grünen gefällt es mir auch besser als hier in der Innenstadt.“ – Diese Gaby war ja richtig gut. Ich wollte schließlich lernen, auf Bäume zu steigen wie Balthus, unser Chef. Ich wollte auch lernen, wie man Mäuse fängt. Hier schienen aber keine zu sein – jedenfalls war nichts zu riechen.

„Tagsüber muß ich, wenn ich aus dem Krankenhaus zurück bin, schlafen. Ich bitte Dich herzlich, mir dann auch meine Ruhe zu lassen. Zwei bis drei Stunden können wir danach noch zusammen verbringen, wenn ich ausgeschlafen habe. Na, was meinst Du, schaffen wir das zusammen?“ – Na klar, laß ich Dich schlafen! Was meinst Du, was ich normalerweise tagsüber mache. Jeder anständige Kater verschläft soviel Tagesstunden, wie er es in seinem Revier vertreten kann. Außerdem tue ich jedem Weibchen gerne einen Gefallen, wenn es sich mit meiner Würde verträgt. Das habe ich auch bei Balthus gelernt!

Die Vorderpfote fuhr mir wieder durch die Rückenhaare und kraulte mein Fell. Fast mit schlechtem Gewissen schielte ich nach den roten Streifen, die sich über die Rückseite der Pfote zogen. Aber Gaby schien mir die Sache nicht übel zu nehmen. Ich rollte mich zusammen und schlief schnurrend ein.

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