Der Fliegenpilz-Mann

Vor undenkbar langer Zeit…

Agaricus ist hochangesehen in der Familie, denn er hat Zugang zu dem Wesen der Pflanzenwelt. Er spricht mit den Devas und Elfen. Mit der Familie hingegen spricht er selten. Meist verschwindet er nach dem Aufstehen zwischen den Bäumen, um abends mit vielen Kräutern und Pflanzen wiederzukommen, damit das Essen zubereitet werden kann. Er weiß genau, wenn Unheil droht und kann die anderen warnen. Bei Festen dagegen taut er auf, springt begeistert in der Runde umher, animiert alle zu tanzen und singt viele heitere Lieder. Trotzdem wissen die meisten nichts mit ihm anzufangen.

Irgendwann einmal, Agaricus ist schon recht alt, hatte ein umstürzender Baum ihn unter sich begraben. Da er meist erst gegen Abend wieder an die Feuer zurückkehrte, wurde seine Abwesenheit vorher auch nicht bemerkt. Nun aber suchten ihn alle, um ihn dann nach vielen Stunden zu finden – stark verletzt und völlig durcheinander. Er verkraftete kaum, dass seine Elfen ihn vor diesem Unglück nicht gewarnt hatten.

Seither ist er in sich verschlossen und zu den anderen oft unfreundlich, besonders, wenn eine Situation ihn überfordert. Da das Jahr mit wenig Regen einhergegangen ist, glaubt Agaricus, er müsse all das ausgleichen und für Essensvorräte sorgen, damit sie gut durch die Dürre kämen.

So ist er nun zutiefst erschöpft und kränkelt schon seit einigen Tagen. Also erzählt Evania auch ihm eine Geschichte:

 
„Vor vielen Jahren stieg der Hüter des Waldbodens aus seiner Erdtüre heraus. Er trug einen kleinen Zweig mit sich und setzte sich unter einen Baum. Er wartete. Er wartete auf den Kräutermann des Stammes, der in der Nähe wohnte. So dauerte es auch nicht lang, bis der Kräutermann Fliegenpilz erschien und den Hüter entdeckte, obwohl dieser nur sehr klein war und ihm höchstens bis zu den Knien reichte. Sie begrüßten sich und der Hüter berührte Fliegenpilz mit seinem Zweig. Sofort wurde dieser kleiner und kleiner, bis er auf die Größe des Hüters geschrumpft war. Dann gingen sie beide zur Erdtüre und verschwanden im Boden.
 
Fliegenpilz hatte sich große Sorgen gemacht, dass die so früh eingetretene Trockenheit seine Waldgärten zerstören würde. Der Hüter hingegen zeigte ihm nun die unterirdischen Seen und Kammern, in denen er viel Feuchtigkeit gespeichert hatte. Sie trafen auf andere Hüter und Elfen, die sich um das Erdreich bemühten, den Wurzeln Wege bahnten und für all die Stoffe sorgten, welche die oberirdischen Pflanzen für ihre Nahrung brauchten.
 
Ein Moor-Elf erschien und führte Fliegenpilz zu den Energiekreisen, die die Luft flimmern ließen – so stark strahlten sie. „Hier verbindet sich die Kraft Allmutters mit den Chakren der Erde. Hier verteilt sich all die Energie auf das Land, das ihrer bedarf. Hier holen wir uns unsere Stärke, mit der Schöpfung in Einklang zu leben.“ Und der Elf zeigte Fliegenpilz, welche wunderschönen Farben und Formen die Kreise annehmen können. Er gab Fliegenpilz einen kleinen Holzstab in die Hand und wies ihn an, diesen über die Kreise zu halten.
 
Im selben Moment strömte die Energie auch auf Fliegenpilz zu, umkreiste ihn und füllte ihn mit all dem Wissen und der Lebenskraft, die der Schamane eines Stammes braucht, um erfolgreich seine Aufgaben zu erledigen.
 
Über Fliegenpilz‘ Gesicht erstrahlte ein zufriedenes Lächeln. Er war wieder in seiner Mitte angekommen. Nun fühlte er sich zufrieden und sicher, gut behütet von Allmutters Kraft und Weisheit. Nun wusste er, dass für ihn und seinen Stamm immer gut gesorgt ist. Er atmete tief durch und schloss die Augen.
 
Kurz darauf stand er wieder auf dem Waldboden und hielt einen kleinen Stab in seinen Händen. Diesen hat er nie wieder weggelegt, denn immer, wenn er sich unwohl fühlte, berührte er damit seine Stirn und spürte, wie all die Lebenskraft und –stärke zu ihm zurückkehrte.“
 

Der Moor-Elf

 

Evania lächelt Agaricus an: „Hast Du nicht auch irgendwo einen solchen kleinen Zweig, der die Kraft der Schöpfung in sich trägt? Oder hol Dir ein paar Pilze aus dem Wald und iss sie, damit Du ihre Stärke in Dich aufnimmst.“

Agaricus kramt in seinen Ärmeln, um einen kleinen Stab zum Vorschein zu bringen. „Manchmal vergess ich, dass ich längst über alles verfüge, was ich zum Leben brauche.“ Verlegen blickt er zur Seite. „Danke, dass Du mich wieder auf mich selbst aufmerksam gemacht hast, Evania.“

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