Tief in der Savanne

Vor vielen Jahrtausenden waren die großen Wüsten auf unserem Erdball noch nicht vorhanden. Stattdessen erstreckten sich Savannen und grüne Flusstäler über den afrikanischen und asiatischen Kontinent.

Die Menschen lebten in kleinen und größeren Gruppen zusammen. Einige errichteten Städte mit gut funktionierenden Infrastrukturen. Die meisten Ausgrabungen aus dieser Zeit belegen dies durch die Art der Funde, die ArchäologInnen zutage fördern: Haushaltsgeräte, Essbestecke, Krüge, Gefäße für die Bevorratung und Hausanlagen, die offensichtlich nicht mit eindringenden Feinden rechneten.

Das in allen großen Religionen geschilderte Paradies könnte genau dieser Zeit entspringen, in der Frauen und Männer ein zufriedenes Leben miteinander führen konnten. Solange gut für jeden gesorgt ist, alle genügend zu essen und zu trinken haben, ein Dach über dem Kopf, einen Bach oder See vor der Tür sowie Achtung und Respekt vor der göttlichen Natur – solange sichern innere Zufriedenheit, tägliche Freude und tiefes Urvertrauen die eigene Existenz. Wenn alles in wirklich ausreichender Menge vorhanden ist, erübrigen sich Gier und Neid. Hass und Eifersucht, Mord und Totschlag.

Ignia streckte sich, nachdem sie aufgestanden war. Die Luft war frisch, Vögel riefen, der Bach neben dem Langhaus plätscherte vor sich hin. Sie hatte tief und fest geschlafen, nachdem sie gestern von der Virgo-Feier zurückgekommen war.

Es war ein schönes Fest gewesen, an dem ihre kleine Schwester unter dem Namen Eonia in den Kreis der Jungfrauen aufgenommen worden war. Ignia hatte sie vom Mondhaus in den Kreis gebracht, wo all die schon warteten, die ebenfalls in der Zeit der letzten 9 Ernten den Status der Jungfrau erworben hatten. Nun war sie frei von den Aufgaben der Kindergruppe, in der sie für die Kleinen zu sorgen gehabt hatte. Sie konnte ihre ersten Schritte als Erwachsene machen, wurde im Rat der Frauen gehört und übernahm neue Aufgaben, die sie auf ihre Weise erledigen durfte. Ignia würde als ihre Jungmutter mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Ignia legte ihren Werkzeuggürtel um, legte das Fell über ihre Schultern und stieg die Leiter hinunter. Unten brannte bereits ein Feuer, auf dem jemand einen Tee aufgesetzt hatte. Sie angelte nach ihrem Becher und goss sich etwas davon ein. Der Tee tat ihr richtig gut, denn die Nächte waren wie immer recht kühl. So konnte sich der Körper wieder aufwärmen.

Während sie mit beiden Händen um das Gefäß griff, entdeckte sie Eonia, die im Bach stand und sich wusch. Ihre dunkle Haut glänzte wie polierter Obsidian und in ihren unzähligen kleinen Löckchen funkelten die Wassertropfen. Eonia hat eine wirklich gute und athletische Figur, überlegte Ignia; sie würde ganz sicher eine erfolgreiche Jägerin werden können, denn hin und wieder brauchten sie für ihre Gruppe bei Festen wie dem gestrigen auch mal eine Antilope oder eine Bergziege, so die Göttin zugetan war.

Eonia schüttelte sich und stieg aus dem Wasser. Sie hob ihren Perlengurt auf und schlang ihn um ihre Hüften. Dann ging sie lachend auf ihre Schwester zu.

„Nun hat Du mich am Hals und musst mir alles beibringen, was ich wissen muss. Wann können wir endlich losgehen, damit ich auch einen Werkzeuggurt machen kann? Ich will diese Kinderperlen endlich los werden! Außerdem kann ich nicht alleine in den Busch gehen, wenn ich nicht auch alles dabei habe, was wir brauchen! Och Ignia, nun komm doch endlich!“
Ignia lächelte. Sie überlegte, ob sie auch so ungeduldig gewesen war, als sie vor ihren ersten Schritten in die Weite der Savanne gestanden hatte. Vermutlich, denn nichts war so aufregend wie der Übergang von kleinen Mädchen zur jungen Frau. Alles, was bis dahin verboten war, konnte nun erfahren werden.

„Sag mal, kleine Schwester, hast Du für das Wasser schon gedankt, dass es Dir Kraft und Stärke gibt?“ – „Oh, nein, muss ich das denn jetzt auch als Jungfrau?“ – „Natürlich, meine Kleine, denn um eine Große zu werden, willst Du doch auch noch wachsen. Und wenn Du dann groß bist, willst Du leben, Dich freuen und immer noch auf die Stärke der Göttin vertrauen – oder nicht?“

Eonia legte den Kopf auf die Seite und überlegte. Ja, natürlich, das war eigentlich klar. Auch sie wollte so groß und stark wie Ignia werden. Auch sie wollte sauberes Wasser und ein Dach über dem Kopf. Auch sie wollte essen und trinken, geben und nehmen. Natürlich mit der Unterstützung der Großen Göttin. So wendete sie sich wieder um und ging zurück zum Bach. Sie formte ihre Hand zu einer Schale, senkte diese in das Wasser des Baches, hob sie hoch in Richtung der Sonne und mit einer schnellen Bewegung verteilte sie die Tropfen über das angrenzende Grün: „Ich danke Dir, Große Mutter Mamaja, für Deine immerwährende Liebe.“ Dann legte sie die eine Hand auf ihren unteren Bauch, die andere hielt sie über den Kopf. „Lass Deine Liebe durch mich hindurchfließen, damit ich allen von allem geben und nehmen kann.“ Sie legte die eine Hand auf den Hinterkopf, die andere auf die Stirn: „Lass mich wachsen, damit ich eine Große werde, die mit Dir verbunden ist.“ Dann legte sie die rechte Hand auf ihre linke Brust, während sie die andere nach vorne streckte mit der Innenfläche nach oben: „Große Mutter Mamaja, wir sind eins, ich danke Dir!“

Strahlend kam sie zu Ignia zurück. Diese war inzwischen aufgestanden. „Nun wollen wir Dir mal einen Werkzeuggurt machen. Immerhin hatten wir gestern eine Antilope, also habe wir genügend Fell, um damit etwas anzufangen.“
Die nächsten Stunden und Tage verbrachte Ignia damit, Eonia zu zeigen, wie eine Frau erfolgreich ihre Utensilien herstellen kann, damit sie in allen Lebenslagen gerüstet war. Eonia lernte schnell und Ignia war glücklich, mit ihr diese Zeit verbringen zu können.

„Du kannst jeden Tag, jeden Augenblick damit verbringen, alles mit dem Segen und der Hilfe der Göttin zu tun. Dann geht es Dir schnell und erfolgreich von der Hand. Sprich mit der Großen Mutter Mamaja, wenn Du vor Fragen stehst, die Du nicht sofort lösen kannst. Verbinde Dich mit ihr, dann zeigt sie Deinem Herzen die richtigen Bilder und Hilfen. Vertraue auf sie, denn sie ist immer da, in jeder Pflanze, jedem Tier, in jedem Stein, jedem Wassertropfen und jedem Lufthauch. Werde wie wir alle Mamaja im Leben.“

Eonia spürte, dass ihre Jungmutter Recht hatte. Jeden Moment, in dem etwas nicht so richtig klappte, legte sie ihre eine Hand auf den Hinterkopf, die andere auf die Stirn, so dass Ruhe in ihr einkehrte. Kurz darauf kam ihr die richtige Idee, die wie ein Leuchtfeuer vor ihrem inneren Auge erstrahlte. Sie fühlte sich in jedem Moment gut geführt – bei äußerer Sicht von Ignia, beim Blick nach innen von ihrer aller Großen Mutter Mamaja.

Leise summte sie vor sich hin:

Ich bin immer froh und glücklich,
gut gelaunt gelingt es richtig.
Immer hab ich die Idee,
weil ich fest und richtig steh.
Mamaja hilft in allen Fällen.
Sie leitet mich zu unsren Quellen.
Sie wirkt in mir und lässt mich streben.
Mamaja bin ich hier im Leben.

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Die Rückkehr in den Tempel

(Link zu YouTube)
 
Dieser Tanz ist ein Gebet.
Ein Gebet für die Erde und darum auch ein Gebet für Frauen.
Dies ist ein Ruf an Frauen, um die Heiligkeit ihrer Körper zu wissen und an sie zu glauben;
an die Geweihtheit ihres Tanzes und die Kraft ihrer Stimme.
Ein Gebet für alle Frauen, die sich selbst nicht ausdrücken und sich selbst zurückhalten.
Die ihre eigene Kraft als Schöpferinnen, Heilerinnen und Lebensgeberinnen nicht kennen.
Mein Gebet ist ein Gebet für Frauen.
Frauen, denen es nicht erlaubt ist, zu tanzen, zu singen und sich selbst auf irgendeine Weise auszudrücken.
Ein Gebet für Männer, die nicht glauben, dass Frauen öffentlich tanzen sollten.
Mein Tanz ist die Stimme der Frauen, die in einem Leben gefangen sind, in dem sie keine Stimme haben.
Mein Gebet ist für die Mädchen, die mit acht Jahren an alte Männer verkauft und zwangsverheiratet werden, und die sterben durch die Hände von Kulturen, die solche Abscheulichkeiten weiterhin und weiterhin erlauben.
Mein Gebet ist für kleine Mädchen, die in die Sexsklaverei verkauft werden und mit Kankheiten angesteckt werden, von denen sie nicht einmal wussten, dass sie existierten.
Mein Gebet ist für diese kleinen Mädchen, die nie die Chance hatten, kleine Mädchen zu sein.
Mein Gebet ist für die Männer, deren ungestrafte Gewalt und Terror gegen Frauen und die Erde in dieser Welt erlaubt wird.
Mein Gebet ist ein Tanz für die Erde.
Mein Gebet ist ein Tanz für Frauen.
Mein Gebet ist ein Ruf an die Frauen, zum Tempel zurückzukehren.

~ Zola Dubnikova

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