Elohim

Der Tag war sehr anstrengend und die Ruhe des Abends verdient, als Selma sich in ihre Kammer begab, um sich  vorzubereiten.  Seit Tagen setzte sie sich in die Mitte des Raumes  auf  ein  rundes  Kissen,  um  sich  entspannt in ihre eigene Mitte zu begeben.

Die Beine lagen gekreuzt  übereinander,  der Rücken hielt sich gerade, der Kopf stand entspannt und aufrecht über der Wirbelsäule. Ihre Hände lagen nach oben geöffnet auf ihren Knien, während sie die Augen geschlossen hielt.

Sie atmete ruhig und gleichmäßig durch, als das Tagesgeschehen noch einmal vor ihrem geistigen Auge ablief. Mit  einem leisen Lächeln verabschiedete sie sich von all ihren Gedanken: „Ich danke Euch, daß Ihr mich den ganzen Tag begleitet und mir geholfen habt, wo immer Ihr das konntet. Nun fliegt als viele kleine Wölkchen davon im Wind, der meinem Verstand Ruhe und meiner Seele Erholung gibt.“

Langsam  zogen  sich  die  Überlegungen  und Einfälle zurück, die sich sonst immer in ihr Bewußtsein drängten. Sie hörte nur noch ihren Herzschlag und das gleichmäßige Strömen der Luft, die ihren ganzen Körper reinigte. Einzeln entspannten sich ihre Muskeln und füllten sich mit der Kraft der Stille.

Irgendwann einmal hatte sie beschlossen, daß auch die Stille eine Farbe hatte. Da ihr Türkis so ausnehmend gut gefiel, kolorierte sie diese  ruhige  Bewegungslosigkeit  in  diesem Farbton. Nun atmete sie Türkis ein und aus. Mit jedem Atemzug spürte sie ein inneres türkisenes Leuchten.

Dann  empfand  sie  ein  leichtes  Aufsteigen der Kraft von unten nach oben. Direkt entlang ihrer Wirbelsäule rankte sich ein starker Baum hinauf, der seine  Wurzeln  tief  in  die Erde getrieben hatte, um sich dort mit den Urkräften  der  Natur  zu  verbinden.  Seine Äste  reichten  weit  über  sie  hinaus  in  den Himmel.

Selma wurde mehr und mehr eins mit diesem Baum. Sie spürte den Wind in ihren Blättern, fühlte mit den Wurzeln das Wasser, das ihre Triebe so sehr benötigten. Sie empfand die wärmende Sonne, die  ein Wechselspiel von Schatten und Licht  erzeugte.  Und  sie  war dankbar für den festen Halt, den ihr der Boden mit seinem Erdreich bot.

Nun fühlte sie sich ganz entspannt und zufrieden. Sie hatte alle Gedanken losgelassen und ging nun auf in dem puren Dasein eines Baumes. Mit jedem Herzschlag füllte sich ihr Herz mit Liebe und Dankbarkeit zu der Schönheit, die ihr Mutter Natur ermöglichte.

Nach  einiger  Zeit,  sie  vermochte  nicht  zu sagen, wie lange  sie  so  dagesessen  hatte, beschloß sie, erholt ihr eigentliches Vorhaben in die Tag umzusetzen. Sie zog also ihr Bewußtsein wieder in ihren menschlichen Körper hinein. Zuerst in die Beine, dann in den Po und den Bauch; sie durchflutete den Brustkorb mit Lebhaftigkeit, die sie auch  in  den Armen verteilte. Sie spürte Liebe und Wärme in  ihrem  Hals  und  dem  Kopf.  Dann  atmete sie ruhig und gelassen einige Male tief durch und öffnete wieder ihre Augen.

Zufrieden  stand  sie  auf,  reckte  Arme  und Beine  und  bewegte  sie  lockernd.  Dann  sah sie sich um.

Es  war  inzwischen  dunkler  geworden,  die Sonne  erleuchtete  die  Welt  noch  einmal  in einem  tiefroten  Ton,  um  dann  bald  hinter dem  Horizont  zu  versinken.  Selma  ging  zu einem kleinen Tisch in der Ecke und zündete drei Kerzen an, die sich dort in einem eige~ nartigen  Ständer  befanden.  Er  wirkte  ein bi×chen  wie  ein  alter  Baumstumpf,  der  als knorrige Eiche irgendwann einmal gewachsen schien. Bei näherem Hinsehen stellte er sich jedoch als metallenes Gebilde heraus.

Dann trat Selma an eine alte Truhe, hob den Deckel und  nahm  einen  Beutel aus  dunkelblauem Tuch heraus. Sie setzte ihn vorsichtig auf dem Boden ab, zog sie ihr Sitzkissen heran  und  ließ  sich  darauf  nieder.  Rasch entknotete sie die Schlingen des Stoffes und breitete sie wie eine Decke  auf  den  Dielen aus.

Mehrere Tiegel und Dosen befanden sich darin. Außerdem eine Feder, ein trockener Reisigzweig, einige Streichhölzer und eine Phiole mit einer hellen Flüssigkeit. Alle Gegenstände reihte sie vor sich auf, nachdem sie sie einige Sekunden gedankenvoll in  der  Hand  gehalten hatte.

Dann griff sie nach einem kleinen Standspiegel, der neben ihr an der Wand lehnte. Sie baute ihn vorsichtig auf und stellte ihn so ein, daß sie ihr Gesicht darin erblicken konnte. Nun öffnete sie die erste der kleinen Dosen. Ihr Mittelfinger angelte nach der Paste, die sich darin befand. Nun verteilte sie diese auf ihren Wangen und strich sie zur Schläfe hin aus. Einige Stippen kamen auf die Stirn, die Nase und das Kinn,  wo  sie ebenfalls gleichmäßig verteilt wurden.

Mit einem Blick in den Spiegel begutachtete Selma ihr Werk. Ihr Gesicht wirkte viel dunkler, aber sie fand es sympathisch. Also schloß sie die Dose und griff zur nächsten. Diese Paste wirkte aschgrau. Wieder entnahm sie mit einem Finger ein wenig, und malte zwei ovale Formen auf die Stirn über die Augen; die Mittel ließ sie frei.

Die Dose wurde geschlossen und  die  dritte geöffnet.  Selma fuhr  fort,  ihr  Gesicht  mit Punkten und Ornamenten zu  versehen.  Zum Schluß, fast wie eine heilige Handlung malte sie in die Mitte der  Stirn,  direkt  über  der Nasenwurzel, ein senkrecht gestelltes Auge.  Dann lehnte sie sich zurück und betrachtete sich.

Sie empfand sich fast wie eine Statue, allerdings eine sehr lebendige, und sie war mit ihrem Gesichtsbild sehr zufrieden. Die Dosen wurden  zusammen  mit  dem  Spiegel  an  die Wand gerückt. Dann ordnete Selma die  Feder,  die  Phiole,  das  Zweiglein  und  die Streichhölzer in der  Mitte  einer  Schale  an, die sie sich vom Tisch  geholt  hatte.  Hinter der Schale setzte sie den Kerzenleuchter ab.

Nun kniete sie sich auf ihr Kissen und ließ sich auf die Fersen herunter. Sie hatte darauf  geachtet,  daß sie  genau  nach  Süden schaute,  wenn  sie  diese  Stellung einnahm.  Dann begann sie zu summen. Sie entwickelte eine Melodie, die sich in ihr bildete, zu einem Lied.  Sie  begann  Worte  zu  singen,  die  sie nicht verstand, die ihr aber gut gefielen. Sie wußte, diese Worte bedeuteten:

„Ich danke Dir, Große Mutter, daß Du  mich jeden Tag  erneut  mit  all Deiner  Kraft  versorgst. Ich nehme die Elemente des Lebens an – Feuer, Wasser, Luft und Erde. Ich nehme mein Sein in dieser Welt und in diesem Leben an und gebe mein Bestes. Ich danke Euch allen, die Ihr mir aus der geistigen Welt zu Hilfe eilt, wenn ich Euch brauche.“

Selma summte ihre Melodie immer fröhlicher und zufriedener. Sie breitete ihre Hände aus und führte sie über die Schale. Ihr war, als ob Wärme von dort aufstiege und gleich einer Kugel darüber schwebte. Sie blickte summend in die Flammen der Kerzen. Dann konzentrierte sich ihr Blick auf das mittlere Licht und sie schaute tiefer und tiefer in die kleinen Feuerzungen, die dort flackerten.

Ohne sich dessen bewußt zu sein, schien ihr Körper immer leichter zu werden. Sie schloß die Augen, konnte aber trotzdem immer noch die Kerzenflamme sehen. Ihr war, als ob sich diese  zu  einer  Gestalt  formten.  Ein  Wesen von überirdischer Schönheit mit langem fließenden  Haar,  langen  fließenden  Gewändern und  einem  beruhigend   lieblichen   Lächeln schwebte über dem Kerzenstumpf.

Dieses Wesen streckte seine Arme nach Selma aus, so als wolle es ihr helfen, ein Hindernis zu überschreiten. Selma nahm das Angebot an und ergriff die feinen und zerbrechlich wirkenden Hände.

Als sie sie berührte, empfand sie sich als vollkommen frei und losgelöst von irgendeiner Erdschwere. Das Wesen führte sie hoch in die Luft. Als Selma sich umsah, bemerkte sie ihren eigenen Körper unter ihr auf dem Kissen knien; entspannt und in sich ruhend. Um den Körper herum sah sie  einen  Adler, einen Stier, einen Löwen und einen Jüngling sitzen; diese schienen auf den Körper aufzupassen, daß ihm nichts widerfahre.

Beruhigt wandte sich Selma wieder dem Wesen zu, dessen Hand sie hielt. Um sie herum war alles schwarz. „Ich sehne mich nach dem Licht“, schoß ihr  durch den Kopf. Sofort tanzten um sie herum viele farbenprächtige Punkte und Blitze, die sich zu spielendem Leuchten  verbanden.  Wogen  von  Perlen  und Strahlen umgaben sie und machten sie fühlen, sie wäre in einem unendlichen Meer, das von Ewigkeit zu Ewigkeit reichte.

Selma fragte sich oder das Wesen, sie wußte es nicht genau, ob dieses Meer  wirklich so groß wäre. „Noch viel größer,“ war ihr als Antwort. Es schien, als ob sich die Frage in ihr selbst beantwortet hätte. Und so dachte sie: „Das ist das Meer des Wissens!“ – „Natürlich, was immer ich wissen will, ich weiß es bereits. Ich kann mich für alles interessieren – und deshalb kenne ich auch alle Zusammenhänge!“  Begeistert  über  all  diese Selbstverständlichkeit, mit der sie mit allem verbunden  war,  schwamm  Selma  in  diesem ewigen Meer.

Sie wollte Musik hören – und sie hörte Musik.  Sie konnte auswählen – oder alle nur denkbare Musik gleichzeitig wahrnehmen. Sie wollte Farben und Formen sehen. Auch hier konnte sie  auswählen – oder alle nur denkbaren Farben  und  Formen  gleichzeitig  empfinden.  Für einen Moment sehnte sie sich nach dem Duft einer Rose – und sie war umgeben von der Fülle eines Rosenmeeres, daß fast betäubend  duftete. Sie wollte fühlen – und sie fühlte. Was immer ihr an Bedürfnissen erwuchs – es erfüllte sich sofort.

Selma schwamm in alles erfüllender Wonne: „Was  immer  ich  gerade  möchte  –  alles  ist möglich – alles ist da!“ Neben ihr entstand ein herzliches Lachen: „Natürlich,  alles  ist da, weil alles, was ist, ist. Es ist die Ewigkeit des Seins. Und da Du reines Bewußtsein bist, weißt Du auch darum!“

„Hier zu sein, ist mein größter Wunsch. Hier möchte ich bleiben!“ – „Nun, Du kannst Dich so entscheiden. Nur hast Du  Dir  noch  eine Aufgabe  gewählt,  die  Du  erledigen  willst.  Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten. Du bist – ebenso wie ich und wie die Helfer, die  Deinen  Körper  behüten.  Wir  alle wollen uns entwickeln, in gegenseitiger Hilfe und Liebe. Deshalb kannst Du Dich auch entscheiden,  diese  Aufgabe  in  diesem  Leben wahrzunehmen. Denn das hast Du beschlossen.“

Selma war fast so etwas wie enttäuscht. Sie reagierte ein bißchen trotzig, wie ein kleines Kind: „Ich möchte aber…“ Doch  tief in  ihrer  Erinnerung  kam  ihr  alter Wunsch hoch,  sich  all  den  gewählten  Aufgaben  zu stellen. Sie wußte, das Wesen hatte Recht.  „Aber ich…“

Es war ihr, als ob jemand sie  in  den  Arm nähme.  Irgend jemand  streichelte  das,  was auch  ihr  Körper  hätte  sein  können  –  tröstend  und  begütigend.  „Du  bist  reines  Bewußtsein, ob nun mit oder ohne einen Körper. Nur in einem Körper bist Du Dir dessen selten  bewußt.“  Wieder  dieses  Lachen,  das so fröhlich wirkte.

„Wir sind alle da, Dir zu helfen. Und Dein Dank hilft wiederum uns. Im Körper kannst Du Dich auf Deine Aufgabe konzentrieren. Du hast Dich und Deinen Körper angenommen – so wird es Dir leicht fallen.“

Selma wußte, das Wesen  hatte  Recht.  Bedauern wandte sie sich ab und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Kammer. Ihr Körper lag inzwischen auf ihrem Bett, zugedeckt mit ihrer Wolldecke. Die vier Hüter befanden sich an den vier Ecken  des  Bettes, die Kerzen waren inzwischen verloschen.

Selma griff nach der Hand des Wesens. Erst fühlte sie nichts, dann wirkte das, was sie berührte, eher rauh. Sie schaute hin und entdeckte, daß sie die Wolldecke fest mit den Fingern  umschlungen  hielt.  Das  Zimmer roch nach Rosen und in ihr  klangen  warme Akkorde, die sich zu einer fast unbekannten Melodie verbanden. Sie summte leise mit:

„Ich danke Dir, Große Mutter, daß Du  mich jeden  Tag  mit  Deiner  ganzen  Kraft  versorgst…“ Dann schlief sie tief und fest ein.

Gisa, 1999

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