Die Kundalini des Lebens
Der Weg durch die Zeit
Huluppa, ein uralter Baum aus uraltem Holz in meinem ewig behüteten heiligen Garten. Innen ist eine Wendeltreppe, die nach oben führt. Sie dreht sich um einen ewigen Kern, der in den Baumgipfel strebt.
Ich steige hoch, meine Füße krallen sich im Holz fest; vorbei an alten Ereignissen, Katastrophen und Glücksmomenten. Jeder Blick erinnert mich – viel getan und was habe ich erreicht? Ich erkenne den See der Tränen, sehe die Bilder unseres Lebens – und strebe weiter – immer höher. Es scheint Jahre zu dauern oder nur einen Augenblick.
Irgendwann verbreitert sich die Spirale der Wendeltreppe zu einem Raum, in dem sie endet. Es hat Kraft gekostet, all diese Stufen zu überwinden. Ich atme tief durch und blicke an mir hinab. Meine Haut ist strapaziert und rau. Ich sollte sie wechseln. Erst einmal will ich mich von dieser Anstrengung erholen.
Mich umgibt ein Raum mit vielen Fenstern, das Turmzimmer auf der Spitze mit der größten Nähe zu Allmutter, geworden aus dem uralten Holz dieses ewigen Baumes, der fest verwurzelt in der Erde verankert ist. Ich spüre die beruhigende Kühle des Bodens. Durch die Fenster strahlt die Sonne herein. Ich ruhe mich aus und rolle mich auf dem Boden zusammen.
Gedanken fließen durch mich hindurch. War es richtig, hierher zu kommen? Habe ich mich richtig entschieden? Bin ich Teil dieses Baumes, wie ich immer Teil des Lebens bin? Wo bist du, Buschmeisterin, die du meine Führerin bist? Die du mir immer die Kraft gegeben hast, all das zu tun, was notwendig ist?
Ich blicke auf den Boden und sehe das Muster. Erschreckt richte ich mich auf, so hoch es geht, um mir einen Überblick zu verschaffen. Es ist der Stern, in dessen Mitte ich nun hoch aufgerichtet stehe. Er hat zwölf Zacken – das Vitagramm – die Mitte des Seins. Ich verstehe nicht, wo bist du, Buschmeisterin? Ich muss mich mit Dir austauschen. – Meine Blicke schweifen durch den Raum.
Das leise Zischen lenkt meinen Blick neben mich. Meine Buschmeisterin Surukuku ist da. Natürlich ist sie da, sie ist immer da. Wir sind eine Gemeinschaft, und waren es immer schon.
„Liebe, du bist verwirrt. Der Aufstieg ist wie immer sehr anstrengend gewesen. Wir sind nicht mehr die Jüngsten“. Sie lächelt. „Schau dich um, wie es hier im Heiligsten deine Aufgabe ist. Schau dich um und erkenne.“
Zwölf Fenster umgeben mich, jedes zeigt in eine eigene Richtung. Ich will dort hinausschauen. So lasse ich mich wieder auf meinen Stock sinken und bewege mich zum Ersten hin. Die Fenster reichen bis zum Boden. Ich schaue hinaus.
Mein Blick fällt auf eine Höhle, in der eine junge Schlange ruht, sie ist im Werden und Wachsen. Ihre Zunge tastet in die Luft, schmeckt die Umgebung. Sie fühlt in sich hinein, da sind noch andere ihrer Art, die auch wachsen. Sie spürt, dass sie hinaus muss, dass diese Höhle sie mehr begrenzt als dass sie sie schützt. Mit leichtem Druck untersucht sie Decke und Wände, findet eine lockere Stelle und schiebt sich dort hinein. Der Boden bricht auf und sie gelangt hinaus – mitten in die Welt des Lebens. Ich erkenne alles wieder – es ist der Beginn meines Erdenlebens, das auch ich beginne. Meine ersten Tage, meine ersten Versuche, zu bestehen.
Erschöpft von der Fülle der Bilder sinke ich zurück. Ich erinnere mich. Ich besinne mich auf die ersten Minuten und Stunden. Sie waren so schwer, denn sie beinhalteten den Entschluss, erneut in einen Körper einzutauchen, der auf viele Möglichkeiten verzichten muss. Mir fällt erneut auf, dass mir in diesem Körper letztlich nur die Fläche für meine Aktivitäten zur Verfügung steht. Auf die Höhe muss ich verzichten. Bilder meiner eigentlichen Größe durchfluten meine Phantasie und lassen mich den derzeitigen Mangel spüren. Doch es war mein Entschluss und ich liebe ihn um meiner und Allmutters Willen.
Langsam finde ich zu meinen Kräften zurück. Mein Blick fällt auf das zweite Fenster. Ich richte mich auf und gehe über die Strahlen des Sternes dorthin. Sofort fällt die Mutterhöhle in mein Blickfeld, umgeben von einem wunderbaren Garten, in dem ich alles wiederentdecke, was ich auf meinen ersten Erkundungstouren gefunden hatte. Ich spüre mein Kinderalter, frei von Verantwortung und Aufgaben. Ein Hauch von Wehmut berührt mich. Es war so schön. Dann finde ich zurück zum Jetzt, denn auch das hat seine Reize, die das Herz erfreuen.
Lange stehe ich an diesem Fenster und genieße den Ausblick. Nur schwer kann ich mich von ihm trennen. Doch ich möchte auch die anderen Perspektiven meines Lebens deutlich werden lassen. Also wende ich mich zurück zum Mittelpunkt des Sternes und gehe auf das dritte Fenster zu, um hinauszuschauen.
Rechts liegt ein großer Haufen Runen-Steine. Weiter links ist mit solchen Steinen eine Geschichte erzählt. Eine Frau sitzt davor und knüpft den Inhalt in eine Lederschnur, um sie einem wartenden Mann mit auf seine Reise zu geben. In ihm erkenne ich meinen Bruder, der vor vielen Jahren als Bote unserer Familie mit fernen Verwandten den Austausch gesichert hatte. Nun wird mir deutlich, dass die Frau dort zwischen all den Steinen meine Mutter ist, die auch mir den Umgang mit den geknüpften Nachrichten beigebracht hat. Viele Stunden habe ich im Runen-Raum gesessen und die vielen Erzählschnüre gelesen, die so wundervolle Geschichten zu berichten wussten. Ich war ganz versessen darauf, dort jede freie Minute zu verbringen, was meiner Mutter jedes Mal ein verständnisvolles Lächeln ins Gesicht zauberte.
Ich wende mich um, gehe zurück in das Zentrum des Sternes und wende mich dem vierten Fenster zu. Dort ist es etwas dunkler, denn hunderte von Frauen stehen dort bis zum Horizont. Unter den vordersten erkenne ich meine Groß- und Urgroßmutter. Meine vor kurzem verstorbene Mutter ist ebenfalls dort. Es schleicht sich eine Träne in meine Augen. Am liebsten würde ich zu ihr hinunterspringen, denn auch mich drücken schon die Jahre und ich bin recht unsicher auf den Füßen geworden. Doch neben mir erscheint die Buschmeisterin und umschlingt meine Beine, mir Halt gebend. „Dort sind deine Ahninnen, zurück bei Allmutter“, höre ich sie denken. „Sie geben dir den Halt im Leben. Ihr Wissen erreicht über dich all deine Lieben.“ Die Meisterin hat Recht, all diese Menschen, die wieder zu den Sternen zurückgekehrt sind, bilden meinen Rückhalt auf dieser Erde. Ich habe mir diese Aufgabe selbst gewählt, ich werde gewusst haben, warum. So macht es Sinn, auch den letzten Teil der Strecke in Würde hinter mich zu bringen.
Ich spüre die vielen Jahrzehnte im Rücken, während ich mich dem Inneren des Sternes zuwende. Viele Generationen habe ich kommen und gehen sehen. Ich habe Wissen gesammelt, um es weiterzugeben. Nun bin ich die Crone unseres Kreises – die, die weiß. Und doch komme ich mir so gering und klein vor, betrachte ich das All, das von Allmutter geschaffen wurde. Sehnsucht ruft mich und ich breite meine Arme aus, die Hände nach oben gerichtet. Ich sinke nach unten, die Buschmeisterin stützt meinen Rücken. Dann spüre ich in den Handflächen, wie Kraft und Harmonie in meine Hände fließt und sich über den gesamten alten Körper verbreitet. Mamaja braucht mich noch auf Erden und gibt mir Lebensmut.
Der fünfte Strahl des Sternes bringt mich zu einem Fenster, hinter dem all meine Kinder spielen. Sie sind noch klein und rennen begeistert durch unseren Garten. Sie ersteigen Bäume und erkunden unsere Heimathöhle.
Sie bewundern die Wandmalereien, die ich ihnen in ihre Kinderecke gezaubert habe – viele Tiere, die jedes Jahr durch unser Gebiet ziehen auf dem Weg in ihre Weidegründe. Noch heute muss ich mich loben, denn die Darstellungen sind mir wirklich gut gelungen. Bis heute schlafen alle Kleinen gerne in diesem Bereich, beschützt vom großen Bären und unterhalten von den Jägern, die sich an die Beute anschleichen.
Auch die Wand der gegenüberliegenden Nische hatte ich angemalt. Sie eignete sich hervorragend durch die Rundung, unseren Sternenhimmel aufzunehmen; in der Mitte der Mond, der uns seit Menschengedenken begleitet. Durch das morgens unterschiedlich einfallende Licht können wir bis heute sehen, welche Zeit gerade abläuft, um zu wissen, was wir für unsere Gärten und unser Leben tun können.
Inzwischen bin ich alt, ich kann mich nur noch mit Schwierigkeiten auf den Beinen halten. Also gehe ich zurück zum Mittelpunkt und wende mich zum sechsten Strahl. Er führt mich an ein Fenster, in dem unsere Speicherräume zu sehen sind. Dort lagern wir unsere Vorräte und die Saat für das nächste Jahr. Lange habe ich diesen Bereich verwaltet. Inzwischen macht das meine Enkelin Ignia, eine junge Frau, die gut überlegt und ein hervorragendes Gedächtnis hat.
Der siebte Strahl zeigt mir all meine Helden und Partner, die mich im Laufe der langen Jahre begleitet haben. Alles liebe und besorgte Menschen, fast alle schon zur Allmutter zurückgekehrt in die Fülle der Sterne. Sie konnten gut hören und die Weisheit der Sternenmenschen wahrnehmen, wenn sie in den Sphären singen, um uns auf unserem Weg zu helfen. Bald werde ich mich ihnen anschließen, wenn es der Schöpfung Wille ist.
Zurück in der Sternenmitte setzte ich mich hin. Ich bin erschöpft, meine Knochen schmerzen von der Anstrengung. Die Buschmeisterin rollt sich zusammen, so dass ich meinen Kopf auf ihren Körper zur Ruhe legen kann. Schlaf überkommt mich.
Im Traum trete ich an das achte Fenster, es erlaubt mir einen Blick in eine ferne Zeit. Die ganze Erde ist übersät mit eckigen Blöcken. Unendlich viele Menschen in komischer Kleidung laufen durcheinander. Die Luft erscheint mir irgendwie dicht und durchwirkt mit Nebelschwaden. Ich kann sie riechen – und sie stinkt! Ganz furchtbar! Kleine bewegliche Blöcke flitzen umeinander. Größere laufen über Strahlen in die Ferne oder kommen von dort. Oh, welch ein eigenartiger Ort ist das, den Allmutter mir als fremdes Gebiet zeigt? Ich hoffe nicht, dass ich dies noch erleben soll.
Schweißgebadet erwache ich. Die Buschmeisterin hat sich zischend in die Nähe der Wendeltreppe zurückgezogen. Es ist, als ob eine fremde Macht im Raum stünde. So errichte ich eine Kugel, die sich langsam ausdehnt und den Raum wieder frei pulsiert. Kleine goldene und grüne Lichtpunkte perlen durch die Luft und reinigen alles. Dann legen sie sich an die Innenseite der Kugel und beleuchten die Erde. Von außen unterstützen mich die Sternenmenschen und lösen alle Spannungen auf, die sich gebildet haben. Ich kann wieder beruhigt durchatmen. Mein Körper ebenso.
Also wende ich mich dem neunten Strahl zu, der mich zu einer Aussicht führt, die mich beglückt. Ich erkenne die Anwesenheit Allmutters, deren Güte und Liebe unsere Erde ernährt. Ich erkenne die Elfen der Pflanzen, die auf das Grün aufpassen. Ich sehe die Nereiden, die das Wasser hüten und unterstützen. Die Elben der Luft streifen durch die Landschaft über Berge und Täler. Und tief im Inneren der Erde unterstützen uns die Dryaden. Ich sehe die Strahlen, die in Liebe und Fürsorge das Universum durchstreifen, um alles in die gleiche harmonische Schwingung zu versetzen, die uns eins sein lässt mit Allmutter. Der Klang der Liebe erreicht mein Ohr und lässt mich ein warmes Gefühl der Verbundenheit empfinden.
Während der Verbindung mit Allmutter spüre ich, wie sich mein inneres Empfinden von ihr zu einem Doppelbild verändert. Ich fühle eine weibliche, aber auch eine männliche Fürsorge. Und ich erkenne, dass die Schöpfung aus zwei Perspektiven besteht, die sich freudvoll in der Berührung vereinen, um hier im Jetzt das Leben wachsen und gedeihen zu lassen.
Ja, so ist die Erde und unser Leben richtig. So sind wir in Übereinstimmung mit dem AllSein. Erleichtert kehre ich in meine Mitte zurück.
Auf dem zehnten Strahl erreiche ich den Ausblick auf meine Berufung. Das Fenster zeigt mir mein Dasein als Crone, die Wissende. Ich erinnere mich: ich bin die, die die Familie durch alle Schwierigkeiten zum Berg der Hoffnung und Erfüllung führt. Ich bin die, die allen Kranken Heilung bringt. Meine Aufgabe ist solange nicht erfüllt, bis meine Nachfolgerin in ihre eigene Mitte gefunden hat, um aus dieser Kraft heraus zum Fels in der Brandung zu werden. Seufzend kehre ich zurück. Es wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis dies erreicht ist.
Im elften Fenster erkenne ich unseren gesamten Stamm mit allen seinen Familien, für die ich ebenfalls als Crone wirke. Ich bin eben die Älteste, die Erfahrene. Sie tanzen im Kreis, diese lieben Menschen. Sie freuen sich auf das große Fest. Sie erwarten die Blütezeit, wenn all die Pflanzen und Kräuter wieder in voller Pracht entstehen, nachdem die Dürre gewichen ist. Das Essen für das Abendmahl wird bereitet. Eonia springt in ihrem jugendlichen Drang über das Feuer in der Mitte des Platzes. Es wird bestimmt ein großartiges Zusammensein.
Nachdem ich in die Mitte zurückgekehrt bin, blicke ich etwas zurückhaltend auf das Fenster am Ende des zwölften Strahles. Ich weiß, dort erwarten mich die Aussichten auf meine Träume und Hoffnungen. Nicht immer stimmen diese mit den Notwendigkeiten überein. In den letzten Jahren war dies vermehrt der Fall; wohl, weil ich mich so sehr nach der Rückkehr zu den Sternen sehne. Ich mache die wenigen Schritte, die mich zum Fenster bringen, gestützt auf die Buschmeisterin, die sich neben mir aufgerichtet hat.
„Du siehst“, denkt sie, „es ist doch sehr schön. Wir wandern zum Berg der Sterne. Dort wird Evania eingeweiht. Dann wird sie von Allmutter gesegnet und du kannst den Weg zurück zu den Sternen nehmen. Deine Hoffnung erfüllt sich.“
Ich spüre ihr Lächeln, das in dem Schlangengesicht mit Augen nicht zu erkennen ist. Aber es ist da. Buschmeisterin wird mit mir kommen, denn Schlange und Crone werden im Laufe der Zeiten zu einem gemeinschaftlichen Wesen. So gehen sie auch dieselben Wege, auf denen sie sich gegenseitig stützen. Sie tauschen ihre Weisheit und ihre Stärke, über die immer diejenige verfügen kann, die ihrer gerade bedarf.
Eine Elbe nähert sich durch das Fenster. „Ariel, wie schön, dich zu spüren!“ rufe ich voller Begeisterung. Nur selten haben wir Gelegenheit, uns auszutauschen. „Ich soll Dir Nachricht bringen von all den anderen unserer großen Seele: Alle freuen sich auf dich, wenn du die Große Furt überschreitest. Diesmal werden wir alle wieder vereint sein und zurückkehren zu göttlicher Ewigkeit.“
Der Raum beginnt ganz langsam zu pulsieren, zu glimmen, um dann hell zu erstrahlen. Wärme umfängt meinen Körper und erfüllt meine Seele. Wie auf Federn schwebe ich aus dem Baum des Lebens zurück auf das Erdreich. Auf den Flügeln Ariels gelange ich in unser Dorf und direkt in meine Hütte, wo ich mich auf meinem Lager niederlasse. Die Buschmeisterin ist schon da und hat sich neben meinem Kopf zusammengerollt. Wir sinken in einen tiefen Schlaf, damit wir für das heutige Fest wieder in der Mitte unserer Lieben sitzen können.