Gesang der Sternenkinder

Ignia beugte sich über Buschmeisterin und Crone. Es wurde jedes Mal schwieriger, die Konturen zu erkennen während dieses Verschmelzungsprozesses. Aber sie hatte noch eine unendlich wichtige Frage. So strich sie über die Aura und ließ zärtliche Worte hineinfließen. Der Kokon öffnete sich und die Crone richtete sich auf.

„Ignia, ich freue mich, Dich zu sehen. Komm an mein Herz“ und die Arme öffneten sich. Ignia lehnte sich an, spürte den alt bekannten Herzschlag und fühlte sich sofort wieder zu Hause angekommen.

„Mutter Schechina, ich hatte einen Traum. Ich sah in unendliche Weiten und empfand die Schwingung des Seins. Eine unermessliche Zahl an Stimmen sang viele Lieder; diese griffen alle ineinander. Sie wurden zu einem wunderbaren Chor. Hoffnung, Liebe und Freude schwang in den Melodien, die sich vertrauensvoll immer weiter entwickelten. Was habe ich da erlebt? Was wurde mir von Mamaja gezeigt? Bitte erkläre mir das, denn es hat irgendetwas mit dem unendlich ewigen Sein zu tun.“

Schechina lächelte. „Setz Dich gerade, beuge Dich ein wenig vor. Du kennst das ja. Ich zeige Dir die Lieder der Schöpfung. Denn die hast Du gesehen.“

Ignia tat, wie ihr geheißen.

„Ignia, da ist eine Schwingung, die Dir besonders bekannt vorkommt; nicht wahr?

Das bist Du, bestehend aus der Fülle Deiner Ganzheit. All die Körperbereiche, die zusammenspielen. All die kleinen Wesen, die Dich hier ausmachen und die Du durch dieses Leben leitest. Mit denen Du atmest, isst, trinkst und tanzt. Du bist ihre Göttin Mamaja und trägst sie durch dieses Leben.

Damit das besonders gut funktioniert, singt Ihr ein gemeinsames Lied, schwingt Ihr in diesem einen Rhythmus, tauscht ihr mit eben diesem Rhythmus ständig alles aus, was zu Euch gehört.

Ihr baut so eine Spannung auf, die Euch jede Bewegung und jedes Tun erlaubt. Diese Vibration lässt Euch fühlen, hören, schmecken, riechen und tasten. Sie lässt Euch denken und handeln. Dieses ewige Lied des Seins, von dem Ihr eine Strophe seid.

Um dieses Lied in all seiner Fülle zu entwickeln, seid Ihr gemeinsam in dieses Leben getreten. All Dein Wissen ist ein Ton dieses Gesanges. Und indem Ihr dieses Lied singt, hört Ihr, ob es in den Schöpfungsakkord hineinpasst.

Der Schöpfungsakkord leitet Euch, weist Euch den Weg. Gemeinsam geht Ihr ihn. Ton für Ton, Schritt für Schritt. Liebend, freuend und vertrauend.

Dies macht den Schöpfungsakkord voller und Euer Leben reicher. Hier und jetzt schwingt Ihr solange, wie es das Leben mit Liebe erfüllen kann. Später, wenn Ihr so alt seid wie ich, strebt Ihr in den Chor der Sternenmenschen, um dort das Konzert zu begleiten. Dann seid Ihr so lebendig, dass die Schöpfung in allen Farben erleuchtet. Dann seid Ihr so weise, dass der Chor in allen Stimmen zu singen weiß. – Ignia, öffne die Augen.“

Schechina lächelte.

Ignia strahlte, umgeben von den gerade betrachteten Bildern.

 

 

„Das ist ja wunderschön. Dann sind die Sternenmenschen Melodien der Schöpfung. Dann ist jede von uns das Lied des Lebens – mein Arm, mein Bein, meine Brust, mein Auge… – alles Töne des einen Liedes, dass wir hier ‚Ignia‘ nennen.

Nun verstehe ich, warum ich nie alleine bin. Ich bin gar kein ‚Allein‘, ich bin immer schon eine Gemeinschaft in einer größeren Gemeinschaft des unendlichen Volkes gewesen.“

Schechina nickte, „ja, Du nennst es ‚ich‘ oder ‚Ignia‘, um die Einzelheiten aus Deiner Sicht zu erkennen. Währenddessen stehe ich an einem anderen Punkt und sehe alles auf meine Weise. Während wir alle um das Feuer tanzen, sieht jede von uns eine andere Perspektive. Dies bereichert das Leben. Dies bereichert die Sicht Mamajas.“

Ignia überlegte einen Moment. Dann meinte sie, „an jedem Punkt meines Lebens treffe ich Entscheidungen. Wenn alles bereits aufeinander abgestimmt ist, dann ist jede meiner Entscheidungen aber keine wirkliche Entscheidung, denn sie steht bereits fest, bevor ich mich entschieden habe. Oder sehe ich das falsch?“

 

 

„Ja und nein, mein Liebling.“ Schechinas Hand strich über die Buschmeisterin. „Bitte erinnere Dich.

Neben dem Ich, das wir »Ignia« nennen, lebt ein viel größeres Selbst, von dem Ignia ein Teil ist. Dieses Selbst trifft die Entscheidung. Gleichzeitig neben der einen Entscheidung, die Ignia gerade erinnert, trifft es auch alle anderen möglichen Entscheidungen. So füllt das Selbst den Garten der tausend Pfade. So erfüllt sich der tausendblättrige Lotos.

So wie Ignia ein Selbst ist, trifft das auch auf alle anderen Sternenkinder zu. Im Garten der tausend Pfade gibt es für jede Entscheidung einen möglichen Pfad. So können wir alle mit jeder Entscheidung einen harmonischen Weg gemeinsam gehen.

Mit jedem »Ich«, dessen sich Ignia erinnert, scheint sie nur dieses eine Ich zu sein. Indem sie sich aller anderen Ichs nicht erinnert, stört sie sich auch nicht in der Wahrnehmung der einzelnen Entscheidung. So kann jedes einzelne »Ich« Mamajas ewiges Sein bereichern.

Da Du und ich auch Mamaja sind, erfüllen wir uns selbst – mit jedem Schritt im Garten und im Lotos. Bis wir müde werden und zurückfinden in die Gemeinsamkeit des Schöpferakkordes.

So sind wir alle das Lied des Lebens. So erfüllen wir uns alle selbst im ewigen Sein Mamajas.“

 

Schechina sank zurück und der Kokon schloss sich. Die Crone hörte bereits den alles erfüllenden Klang ewiger Liebe und erkannte das Orchester des pulsierenden Lebens.

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